Zu Staub-Bernasconi, „Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Soziale Arbeit als Theorie und Praxis – oder: Was haben Menschenrechte überhaupt in der Sozialen Arbeit zu suchen?“

In ihrem Beitrag thematisiert Staub-Bernasconi die Legtimationsgrundlage und Auswirkungen der Einbindung der Menschenrechtsthematik in Ausbildung und Praxis Sozialer Arbeit. Der Untertitel, „Oder: Was haben Menschenrechte überhaupt in der Sozialen Arbeit zu suchen?“ ist eine Paraphrasierung des Anliegens der grande dame der Sozialen Arbeit, die allen sofort Zugang ermöglicht. Der eigentliche Textkörper jedoch ist dann nicht mehr leicht zugänglich. Da ensprechen sich Form und Inhalt an Komplexität und dem, was sie der Leserschaft abverlangen: recht viel. Da der Artikel eine Antwort auf Kritik aus der eigenen Zunft ist und diese auch die wissenschaftliche Community einschließt, bleibt ihr sprachlich keine andere Wahl.

Der besondere Anlass des Artikels ist die Einführung des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ in Berlin, 2002. So schickt Bernasconi ihren eigenen Ausführungen einen konkreten Katalog von Vorbehalten voraus, und lässt ein Plädoyer für die Rolle der Menschenrechte in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen folgen. Aus jeder Formulierung, in der sie die Menschenrechte zitiert, geht klar hervor, dass es für Staub-Bernasconi in Bezug auf die Legitimität der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession niemals um das Ob, sondern immer um das Wie geht.

In einer überzeugenden Argumentationskette bringt sie uns näher, dass es längst eine Historie von offiziellen Texten gibt, die einen festen Platz für Menschenrechte in der Sozialen Arbeit vorsehen. Das reicht unter anderem von dem UNO-Manual „Social Work and Human Rights (1993) über die rechtlich nicht verbindlichen Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates (2001) zu der von zahlreichen Berufsverbänden und Dachverbänden verwendete Definition Sozialer Arbeit (seit 2000). In den Berufskodizes von IFSW, IASSW und auch DBSH sind Menschenrechte längst festgeschrieben. Im deutschen Qualifikationsrahmen der Sozialen Arbeit werden sie im Übrigen auch genannt.

Bernasconi entwirft ein komplexes Bild und erinnert uns daran, dass mit Menschenrechten der Mensch vor dem Menschen geschützt werde und Täter*innen und Opfer nicht so leicht auseinanderdividiert werden könnten. Täter*innen könnten sich auch in unseren Reihen in der Sozialen Arbeit befinden. Auch wenn nationale Rechtssprechungen nach wie vor den rechtlichen Vorrang beanspruchten und so in einer sonst globablisierten Welt innerhalb der Landesgrenzen für ungerechte Machtverhältnisse sorgten und diese aufrechterhielten, sei zumindest mit den UNO-Menschenrechten eine übergeordnete Rechtsposition geschaffen worden, überzeugt Staub-Bernasconi. Als rechtlicher Bezugspunkt stärken uns die Menschenrechte beim Ringen um Veränderung sozialer Regeln. Damit stellen sie ein wichtiges Instrument für die Soziale Arbeit dar.

Nun appelliert Staub-Bernasconi an die Soziale Arbeit, dieses Instrument nicht als „moralische Keule“ (ibid., S. 14) überzustrapazieren, sondern verlangt eine Unterscheidung „zwischen geringfügigen, mittleren, schweren Menschenrechtsverletzungen“; letztere, so fordert sie, müssten dynamisch in Angriff genommen werden (Staub-Bernasconi, 2008, S. 15). Diese Kategorisierung stellt für in der Sozialen Arbeit Tätige eine entlastende Einschränkung dar, die das Gefühl der Überforderung, das sich beim Begriff Menschenrechtsprofession hier und da einschleicht, zu reduzieren vermag, auch wenn es ungeklärt bleibt, was denn eine schwere Menschenrechtsverletzung genau ausmacht.

Staub-Bernasconi beschert den Praktiker*innen eine weitere Verantwortungseinschränkung: Sie geht auf die zwei Ebenen der Akteur*innen und der Machtstrukturen ein und sieht die Bezugswissenschaften (insbesondere die Psychologie, aber auch die Sozialogie, Ökonomie und andere) in der Pflicht, wenn es um die Erklärung von Menschenrechtsverletzungen geht, ob auf der Akteur*innen-Ebene oder der strukturellen Ebene. Die Bezugswissenschaften sollen also soziale Probleme erklären, aber nicht bewerten. Diese Zuweisung legt eine Arbeitsteilung nahe, bei der die Soziale Arbeit unter Heranziehung der Erklärungen die sozialen Probleme bewerten und Handlungsaufträge für die Praxis ableiten soll. Welche Handlungsformen sich daraus ergeben, wird nicht konkretisiert. An diesem Punkt bietet Staub-Bernasconi keine Antworten, sondern nur Fragen und fordert die Forschung auf, sich mit den Fragen zu beschäftigen. Sie stellt die Frage, ob die Soziale Arbeit moralisch verpflichtet sei, sich mit einer revolutionären Veränderung der Verhältnisse auseinanderzusetzen und welche Chancen sie habe, soziale Regeln, die ungerechte Machtstrukturen zementieren, zu verändern. An diesem Punkt lässt sie den Teil der Leserschaft, der sich schon auf Antworten gefreut in der Luft zappeln. Man fragt sich, ob man nun ein Forschungsprojekt initiieren solle, wo der Dienstplan doch schon so voll ist. Außerdem schleicht sich die Frage ein, was wohl der Träger dazu sagen würde und ob man das besser in der Freizeit angehe, wo man doch eigentlich Erholung verdient habe.

Ganz am Schluss aber kommt die Antwort. Staub-Bernasconi gibt den überzeugten Revoluzzer*innen unter uns quasi zeitverzögert noch ein warnendes Wort mit auf den Weg: „Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass wenn man – ob politisch rechts, links, religös oder professionsbezogen – an das Gute, in unserem Fall an die Menschenrechte glaubt, man sich quasi automatisch im Recht sieht. […] Wer an das Gute glaubt, ohne wissen – insbesondere wissenschaftlich wissen – zu wollen, hat keine Zweifel mehr an sich selbst“ (ibid., S. 27–28). Das ist in Worte gegossenes Gold: Wo der Zweifel am eigenen Tun aufhört, wird nicht mehr reflektiert. Da entstehen schnell Intoleranz und Unmenschlichkeit und da bilden sich langfristig nur neue Strukturen des Unrechts heraus. Staub-Bernasconi ist eine grandiose Fragestellerin, die ihrer Leserschaft und allen in der Sozialen Arbeit viel abverlangt, aber schlussendlich wählt sie den Weg der kleinen Schritte. Diesen Weg kann jeder einschlagen.

Für die, die wissen wollen, gibt es Theorien (in) der Sozialen Arbeit. Und Staub-Bernasconi fordert von uns in der Sozialen Arbeit klar und deutlich die Beschäftigung mit der Wissenschaft ein. Diesbezüglich präsentiert sie uns die Menschenrechte als nützliches Instrument in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Früchten der Wissenschaft. Menschenrechte sind hier eine Brille, mit der die Theorien betrachtet und analysiert werden können. Welches Menschenbild sich beispielsweise hinter kognitiven Theorien wie der Pawlowsche Konditionierung verbirgt, kann mit der Menschenrechtsbrille gut ausgemacht werden. Das ermöglicht einen achtsameren Umgang mit wissenschaftlichen Inputs.

Für die Autorin dieses Essays besteht in der so gewonnenen Achtsamkeit einer der beiden großen Vorteile der Integration der Menschenrechte in die Soziale Arbeit. Der zweite Vorteil ist der transnationale, rechtliche Bezugspunkt, den die UNO-Menschenrechte bieten, auch wenn er noch ein wenig zahnlos anmutet. Die Menschenrechte sind nicht mehr jung, aber trotzdem noch in den Kinderschuhen. Aus der Zahnlosigkeit kann sich Schritt für Schritt Biss entwickeln. Klient*innen beziehen sich immer wieder auf diese Rechte – schon das ist ermutigend.

Zu guter Letzt soll kurz gesagt werden, dass die Integration von Menschenrechten in die Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit eine anspruchsvolle Aufgabe ist, aber bei Weitem nicht die größte. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, so utopisch es auch manchmal erscheint, muss sogar noch überboten werden. Ökologische Gerechtigkeit, die sich auf alle Lebewesen bezieht, also nicht nur die Spezies Homo sapiens im Visier hat, und das Augenmerk auf eine gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen richtet, ist die Basis auch für soziale Gerechtigkeit. Klingt das noch utopischer? Sicherlich – aber ohne dies ist soziale Gerechtigkeit noch weniger umsetzbar und sind Menschenrechtsverletzungen noch wahrscheinlicher. Auch hier kann der Weg der kleinen Schritte uns voranbringen und ist allemal besser als Stillstand. Er vermeidet auch das Entstehen eines Machtvakuums, das sich allzu häufig mit gerechteren Strukturen füllt. Nur müssen die Schritte halt stetig sein.

 

 

Quelle: Staub-Bernasconi, „Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Soziale Arbeit als Theorie und Praxis – oder: Was haben Menschenrechte überhaupt in der Sozialen Arbeit zu suchen?“, Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 107/28, 2008, Nr. 1, S. 9-32.

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